Im Jahr des Affen

Eine Rezension: Patti Smith – Im Jahr des Affen

 

„Nichts wird je endgültig gelöst. Lösungen sind eine Illusion.“ Patti Smith [1]

Chinesische Horoskope sind in Jahre eingeteilt (sie beginnen zu unserem Jahr zeitversetzt) und jedes Jahr steht in einem eigenen Tierkreiszeichen. Das Jahr 2016 ist laut chinesischem Horoskop das Jahr des Affen, das für Veränderung und Unruhe seht. In ihrem gleichnamigen Buch erzählt Patti Smith von ihrem Jahr 2016 voller Unwägbarkeiten, Veränderungen und auch Herausforderungen. Sie nimmt den Leser mit auf eine Reise, eine Reise in die Welt ihrer Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen, Ideen, Träumereien. Der Verlag bezeichnet das Buch als „Road-Memoir“ und das beschreibt es gut. Das Buch entsteht auf einer Reise, on the Road, und ist voller Erinnerungen. Begleitet werden ihre Worte von Fotografien, flüchtigen Momentaufnahmen, die das Geschriebene verbildlicht unterstützen.

Im Jahr des Affen

Pattis Reise durch 2016

Patti Smith beginnt diese Reise in dem für sie persönlich schwierigen Jahr 2016 in Santa Cruz im Dream Inn bzw. Dream Motel.

Begleitet wird ihr Weg durch ihre losen Gedanken und Träumereien. Sie denkt viel an ihre Wegbegleiter durch wichtige Lebensphasen und enge Freunde. Da sind Sandy Pearlman, der im Koma liegt, mit dem sie hätte eigentlich diese Reise starten wollen. Und da ist eine ihrer Lieben, Sam Shephard, der an ALS erkrankt war.

Auf ihrem Weg durch 2016 landet sie an verschiedenen Orten und erkundet diese auf ihre eigene Art und Weise, mal zerstreut und gedankenverloren, mal mit klarem Blick und manchmal hinterfragend. Sie lernt neue Menschen kennen mit unterschiedlichsten Charaktere, redselig, verschwiegen, intellektuell, verschroben. 

Verluste und Abschiede wie von ihrem Freund Sandy verarbeitet Smith in diesem Buch. Am Ende ist sie ein Jahr älter geworden, ganze 70 Jahre, und musste einige Dinge für sich persönlich hinnehmen, verändern und umsortieren. 

„Zehntausend Jahre oder ZehntausendTage, nichts kann die Zeit aufhalten oder an der Tatsache rütteln, dass ich im Jahr des Affen Siebzig würde. Siebzig. Nur eine Zahl, aber eine, die anzeigt, wie der zugeteilte Sand durch die Eieruhr rinnt, und man selbst ist das verflixte Ei. Während die Körner rieseln, ertappe ich mich dabei, dass ich die Toten stärker vermisse als früher.“ Patti Smith [2] 

Manches Mal muss man genau lesen, um zu erkennen und zu unterscheiden, was die erlebte Realität ist und was Patti Smith sich erträumt. Erlebnisse, traumhafte Ereignisse und Gespräche, wechseln sich mit wahrhaften Ereignissen und Erinnerungen ab.

 

Pattis Schrecken in 2016

Im Jahr 2016 kam es in den USA zu einer großen Überraschung, Donald Trump gab seine Kandidatur zum US-Präsidenten bekannt und wurde tatsächlich gewählt. Er zeichnete sich nicht durch demokratisches Verständnis, poltisches oder geschichtliches Wissen und präsidiales Handeln aus. Nein, er war ein Provokateur, ein Unwissender und Polemiker. Dennoch wurde er gewählt. Patti Smith beschäftigt sich mit diesem Schrecken in ihrem Buch. Sie war geschockt über diese politische Entwicklung, denn sie ist überzeugte Demokratin.

„Erster April. Ein Gauner riss tatendurstig die Zügel an sich, während Wellen der Verwirrung auf uns zurollten, stahlharte Brecher, die uns stolpern ließen und dauerhaft aus dem Gleichgewicht brachten. Die Nachrichten überschlugen sich, und alle versuchten fieberhaft, den Wahlkampf eines Kandidaten zu begreifen, der so schnell Lügen produzierte, dass niemand mithalten oder sie entlarven konnte.“
Patti Smith [3] 

Im Januar 2021 endete Trumps Amtszeit nach 4 schwierigen Jahren, in denen der Präsident das Land spaltete und Hass säte. Bestimmt war die Wahl des neuen Präsidenten Joe Biden für Patti Smith wie für viele Menschen in der ganzen Welt ein Grund, um endlich wieder tief einatmen zu können. Ein Moment, in dem der schwere Stein auf dem Herzen endlich zu Boden fällt.

Pattis Freund Sam

Schließlich berichtet sie von ihrem Freund Sam Sheppard, dem Schauspieler, Autor und Regisseur, der zu dem Zeitpunkt schon an der unheilbaren Nervenkrankheit ALS litt. Einst liebten sie sich und blieben bis zu seinem Tod tief verbunden. Patti Smith erinnert sich an ihre gemeinsamen Träume einst in Australien den Ayers Rock zu sehen. Diese Träume blieben ihr dann einzig übrig. Sie besuchte ihn 2016 auf seiner Farm und traf ihn noch einmal in seinem Ferienhaus, gemeinsam arbeiteten sie an seinem Buch. Sheppard war zu dem Zeitpunkt durch seine Krankheit schon stark beeinträchtigt und auf Hilfe angewiesen. Patti Smith sah ihn in diesem Jahr zum letzten Mal. 2017 verstarb er.

„Jeder stirbt, hatte er gesagt und auf seine Hände geblickt, die allmählich ihre Kraft verloren. Natürlich habe ich es mir anders vorgestellt. Aber es ist in Ordnung. Ich habe mein Leben so gelebt, wie ich es wollte.“ Sam Sheppard [4]  

Pattis Welt

Patti Smith gehört zu den inspirierenden Künstlerinnen unserer Zeit. Sie schreibt, malt, fotografiert und macht Musik. Sowohl in der Lyrik als auch Prosa ist sie zu Hause. Und sie liest, sie liest viel und erzählt in ihren Büchern davon. Dadurch treibt sie an und motiviert. Auch wenn einige sie vielleicht für seltsam, wunderlich und merkwürdig halten mögen.

Manchmal wünschte ich mir, ich würde die Welt mit ihren Augen sehen. Denn sie ist ständig von etwas intellektuellem, etwas Poetischem, etwas Romantischem, etwas Kritischem und auch Träumerischen begleitet.

Sie schafft es alltägliche Gegenstände wie Bücher, Bonbonpapiere, Tassen mit Poetik aufzuladen, so dass die einfachen Dinge zu etwas Kostbarem, einem Stück aus einem Museum, etwas mit Geschichte und wichtigen Inhalt werden. Schnappschüsse und Momentaufnahmen sind beladen mit wichtigen Erinnerungen und kostbaren Gedanken. Und werden so zu kleinen Kunstwerken.

„Egal, welchen Weg ich ging oder in welchem Flugzeug ich saß, es war immer noch das Jahr des Affen. Ich bewegte mich nach wie vor in einer Atmosphäre künstlicher Helligkeit mit scharfen Rändern, in der Hyperrealität eines schmutzigen, polarisierendes Wahlkampfs, einer Schlammlawine, die noch den letzten Außenposten erreichte.“ Patti Smith [5] 

Pattis Worte

Manches Mal verliert sich Smith in ihren Träumereien und der Leser muss konzentriert lesen, um den Faden nicht zu verlieren. Und ja, manches Mal sind die Geschichten, die uns Smith erzählt, verworren und skurril. Dennoch vermittelt das Buch auch, dass sich Probleme überwinden lassen und Herausforderungen zu meistern sind. Es hilft auch einmal Fünfe grade sein zu lassen und sich einfach auch mal den eigenen Träumereien hinzugeben. Der Spiegel benannte es mit „dramaturgischer Schlichtheit“. [6] 

Patti Smith verknüpft Worte gekonnt zu Sätzen und verbindet alles zu einem tiefen, sinnlichen Text, der uns in eine andere Welt hinter der Realität eintauchen lässt. Es ist Smith ganz eigene Welt, die sich oft mit Träumen verbindet und so Wahrnehmungen verschiebt. Und auch wenn ihr Jahr 2016 durch erschütternde Ereignisse durcheinander gewirbelt wurde, blieb sie stets positiv. Sie verharrt nicht in der Vergangenheit. Sie nimmt uns mit auf ihre eigene Reise in die Vergangenheit in ein Jahr, das für sie mit Tiefen und Höhen geparkt war und am Ende doch unaufhaltsam auf die Zahl 70 zugeht.

 

[1] Patti Smith „Im Jahr des Affen“, Köln, 2020, S. 115.
[2] Patti Smith „Im Jahr des Affen“, Köln, 2020, S. 96.
[3] Patti Smith „Im Jahr des Affen“, Köln, 2020, S. 103.
[4]Sam Sheppard in: Patti Smith „Im Jahr des Affen“, Köln, 2020, S. 108.
[5] Patti Smith „Im Jahr des Affen“, Köln, 2020, S. 149.
[6] Höbel, Wolfgang: „Patti Smith – Im Jahr des Affen (Rezension)“, Spiegel online: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/patti-smith-im-jahr-des-affen-rezension-a-78a5728e-62c3-4f2f-815c-33c36a44d1bb

 

Die junge Patti Smith fotografiert von Robert Mapplethorpe: Plattencover „Horses“

 

 

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