Zeitgenössische Kunst kann gesellschaftliche und soziale Zusammenhänge widerspiegeln, sie kann sich damit kritisch auf künstlerische Weise auseinandersetzen und den Blick darauf richten. Reflexionen über Kulturen, deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten gehören zum Verständnis der Kunst. So arbeitet die in Kairo geborene Nil Yalter mit den heutigen Lebensverhältnissen der Menschen in Zeichnungen, Fotografien und auch Videos und Performances.
ICH BIN EINE KÜNSTLERIN
ICH BIN EINE JÜDIN AUS SALONIKI / EINE MUSLIMA AUS BOSNIEN
ICH KOMME AUS DER TÜRKEI, AUS FRANKREICH
ICH BIN EINE MONGOLIN, EINE NOMADIN, EINE GASTARBEITERIN
IM EXIL
ICH BIN DIE BOTSCHAFT
ICH BIN
Nil Yalter [1]
Das Museum Ludwig in Köln zeigt eine große und umfassende Ausstellung „Nil Yalter. Exile is a hard job“ der türkischstämmigen Künstlerin, zu sehen vom 9. März bis zum 2. Juni 2019.
In der Beschreibung des Museums wird Yalter als „Pionierin einer gesellschaftlich engagierten und technisch avancierten Kunst“ [2] betitelt und diesem Versprechen kommt das Museum auch nach. Es ist die erste große Überblicksausstellung des Werkes Yalters und zeigt ein umfangreiches künstlerisches und kreatives Schaffen. Gezeigt werden frühe, kaum gezeigte Gemälde, Multimedia-Installationen, Collagen, Zeichnungen, Videos, Fotografien und Skulpturen der Autodidaktin. Dabei gibt es nie einen direkten Adressaten, im Grunde könnte sich jeder angesprochen fühlen. Jedoch sind die Botschaften in den Arbeiten nie mit Klischees oder dem metaphorischen Fingerzeig gespickt. Es sind Statements, Dokumentationen von Leben.
Der Begriff des Exils kann verschiedene Bedeutungen haben, es kann das selbstgewählte Exil, eine Flucht, das innere Exil oder das aufgezwungene Exil gemeint sein. Exil ist aber in der Regel negativ konnotiert, denn oft ist das Exil kein freiwillig ausgesuchter Ort zum Leben. Exil steht häufig im grundsätzlichen Gegensatz zu dem Begriff Heimat, wobei aber ein Exil auch zur Heimat werden kann. Exil ist aber wohl eher ein Ort, an dem sich der neue Bewohner einrichten, zurechtfinden und neu sortieren muss, es beginnt ein langer Prozess.
Geboren wurde Yalter in Kairo im Jahr 1938, der Vater muslimisch, die Mutter jüdisch, sie besuchte das Robert College in Istanbul und lebt und arbeitet seit 1965 in Paris. So verknüpft sie Ihre Herkunft, ihre Kultur, ihr Leben mit ihrer Kunst und reflektiert über Migration und das Leben weit weg von der Heimat, dies aus einer weiblichen Perspektive. Aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte, ihrem Leben im Exil, ihrer Rolle als Frau in einer neuen Kultur ab 1965, wird ihr Werk authentisch. Die Arbeiten sind ehrlich und spiegeln Yalters persönliche Empfindungen und ihre Identifikationsprobleme wider. So steht Yalter für eine gesellschaftlich engagierte Kunst.
„Manchmal habe ich das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören, zwischen den Stühlen zu sitzen. Wenn ich in der Türkei bin, fühle ich mich manchmal nicht ganz wohl, nicht zu Hause. Aber wenn ich zurück nach Paris komme, geht es mir genauso.“[3]
Feminismus und Migration sind die Themen der Künstlerin, die sie immer wieder in ihren Arbeiten seit 1970 behandelt. Als eine der ersten Künstlerinnen in Frankreich nutzte sie das neue Medium des Videos für ihre Kunst und instrumentalisierte es für ihre Aussagen. Daher steht Yalter für technisch avancierte Kunst.
Während der Ausstellung werden in Köln, in den verschiedenen Vierteln, oder wie der Kölner sagt „Veedeln“, schwarz-weiße Poster mit Portraits von Migranten aus der Serie „Exile is a hard job“ aufgehängt, die nicht autorisiert sind. Dieser Titel, der vom türkischen Schriftsteller Nazim Hikmet stammt, steht dann auch, von der Künstlerin oder den Bewohner*innen aufgeschrieben, auf den tapetenartigen Bildern in der Sprache, die in dem jeweiligen Viertel am meisten gesprochen wird, so zum Beispiel türkisch, russisch, arabisch oder deutsch. Die Zeichnungen und Fotos, die zu Postern angeordnet sind, sind eine Fortführung der Arbeit „Turkish Immigrants“ aus dem Jahr 1977. „Die Arbeit ist von und für Migrant*innen, deren Existenz gleichzeitig so offensichtlich und doch abwesend ist.“ [4] Die Plakate werden hin und wieder, regelmäßig, vom Ordnungsamt abgerissen, auch manchmal von Anwohnern und Anwohnerinnen. So ist es eine bildhafte Metapher zu den Migranten und Migrantinnen, die Poster sollen aus dem Stadtbild verschwinden, entfernt werden, und so ergeht es oft auch im Leben einiger Menschen bzw. Migrant*innen. Und diese Plakate greifen die immer wiederkehrenden Themen der Werke der Künstlerin auf: Migration, Diskriminierung, Ausbeutung und Rechte einiger Minderheiten besonders aber auch der Frau.
Passen Ästhetik und Politik zusammen? Das ist wohl eine immanente Frage der Kunst. Oft werden beide Felder getrennt betrachtet und bearbeitet, selbst wenn sie zusammen in Kunstwerken erscheinen. Doch die Angst, dass dieses Gefüge zu brüchig ist, ist vielleicht zu groß um gemeinsame Wege einzuschlagen. Wurde Politik und gesellschaftliche und soziale Probleme als Thema behandelt, dann oft eher subtil und versteckt oder die Ästhetik verlor sich hinter dem Thema. Also entsteht oft die Frage, ob beide Felder wirklich zusammen in einem Kunstwerk interagieren können. Nil Yalter schafft es, beides zusammenzufassen. Ein politisches Statement, eine soziologische Analyse wandelt sie in Kunst um, die auch einen ästhetischen Aspekt beinhaltet.
„Die Leute haben gesagt: Was ist das denn? Das ist doch keine Kunst! Das ist Politik, das ist Soziologie. Wer will sich denn schon Fotos oder Zeichnungen von Migranten an die Wand hängen? Das Publikum hat meine Kunst überhaupt nicht verstanden. Als ich aber die Arbeit über das Pariser Frauengefängnis politischen Aktivisten gezeigt habe, da meinten die: Das ist viel zu künstlerisch. Ich hing also immer zwischen den Stühlen.“[5]
Die Künstlerin greift in ihren Werken aktuelle politische Situationen auf und bearbeitet diese mit ihrer eigenen Kunstsprache und Ästhetik. Beispiele sind der Alltag in einem Frauengefängnis, die Verurteilung türkischer Aktivisten zum Tode oder Situationen analphabetischer Migranten oder ehemaliger Gastarbeiter*innen. Kulturelle Einflüsse aus der Türkei oder Frankreich sind immer wieder zu finden. Dabei fließen viele Faktoren und Aspekte in die Arbeiten mit ein. Sprache, unser wichtigstes Kommunikationsmedium, spielt eine wichtige Rolle.
Fotografien zeigen Menschen. Menschen, die nicht in ihrem Heimatland leben. Von diesen Vorlagen erarbeitete sich Yalter Zeichnungen, bei denen sie die Gesichter konsequent wegließ. Nur Umrisse und leere Gesichter bleiben übrig. Ein Verweis auf das Gefühl der Fremdartigkeit in dem anderen Land und die verlorenen Wurzeln. Zusätzlich gibt es zu diesen Zeichnungen Videos, in denen die dargestellten Menschen von ihrem Leben sprechen. Die künstlerischen Arbeiten von Nil Yalter sind Dokumentationen und Zeugnisse von Armut, gescheiterter Integration und ambivalenten Gefühlen der Beteiligten gegenüber ihrer neuen und alten Heimat.
Zu der zentral positionierten Jurte (eine Art Zelt) sagte die Künstlerin folgendes: „Die Frau ist die Herrscherin, die in der Jurte lebt und stirbt. Die Jurte ist ihr Territorium und ihr Gefängnis. Als ich die Arbeit zum ersten Mal zeigte, dachten die Leute, es ginge um Romantik und die Sehnsucht nach der Natur. Ich musste ihnen klarmachen, dass Menschen ein Nomadenleben führen, weil sie arm sind.“[6]
Gezeigt wird eine Jurte, eine Art Zelthütte eines nomadischen Volkes. Die verheirateten Frauen sind gezwungen und eingesperrt in dieser Behausung. Es hat nichts mit Naturromantik oder dergleichen zu tun, sondern ist eine realistische Anschauung eines Gefängnisses für Frauen.
Die Videoarbeit „The headless Woman or the belly Dance“ aus dem Jahr 1974 war eine ihrer Videoperformances, die feministisch ausgerichtet war. Das Video wurde in einer internationalen Ausstellung zur Videoperformance in Frankreich gezeigt. Hiermit wurde Yalter zur Pionierin. Und es geht um Lust, die weibliche Lust. Ein Thema, das oft, auch noch jetzt, tabuisiert oder nicht als wichtiges alleinstehendes Unabhängigkeitsmerkmal anerkannt wird. Die Künstlerin führt einen Bauchtanz vor und schreibt währenddessen einen kleinen Text um ihren Bauchnabel, der von sexueller Freiheit und auch der Klitoris und deren Funktion, einem Sexualorgan der Frau (für diejenigen, für dieser Begriff ein Fremdwort ist), handelt.
„Es ist Menschen aber noch immer unangenehm, über die Klitoris und ihre Funktion für den weiblichen Orgasmus zu sprechen.“ [7]
Ein ganz aktuelles Thema wird des Weiteren in der Ausstellung thematisiert: Transgender, Transsexualität. Heute oft als Drittes Geschlecht bezeichnet und neben Mann und Frau eine wichtige weitere Kategorisierung. In einem abgetrennten Raum findet der Besucher, die Besucherin Fotografien und Videoarbeiten eines Mannes, der sich Seidenstrümpfe, High Heels und eine Federboa anzieht. „Le Chevalier d’Eon“. Die Fotografien zeigen die langsame Wandlung durch eine Hormontherapie. Die Eindrücke der Arbeiten gehen tief und es ist eine intensive Erfahrung.
Nach ihrer intensivsten Produktionsphase in den 1970er Jahren und einer Phase der Auseinandersetzung mit Yalters politischen und sozialkritischen Arbeiten, wurde sie nun in den letzten Jahre von der Kunstwelt wieder entdeckt und ihre Position in einen aktuellen Zusammenhang gestellt. Bereits renommierte Kunstinstitutionen zeigten Ausstellungen mit ihren Werken. Die erste Einzelausstellung wurde 1973 im Musée d’Art Moderne de Ville de Paris gezeigt.
Die Ausstellung des Museum Ludwig ist sehr umfangreich, sehr bedacht konzipiert und weist zahlreiche Facetten des Schaffens Nil Yalters auf. Ein einziger Besuch, um alles in dem Umfang zu erfassen, wird sicherlich nicht reichen. Und eine nähere Beschäftigung mit der Künstlerin lohnt, vor allem dadurch, dass Ihr Diskurs und ihr Dialog, den sie mit ihren Werken eröffnet und anschiebt, heute immer noch aktuell ist und sich in die derzeitigen Debatten um Menschenrechte, Leben in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften und die Rolle der Frau und ihre Rechte, besonders gut einfügt.
Yalter porträtiert und zeigt auf, das Leben, die Hintergründe und die Menschen, von Menschen, die zu Minderheiten gezählt werden oder eher am Rand einer Gesellschaft leben, weil es die Umstände so ergaben. Dies tut sie auf eine sensible Art und Weise. Der übersetzte Titel der Ausstellung: Exil ist harte Arbeit, zeigt bereits worauf die Ausstellung anspielt. Es geht um das Zurechtfinden in einer neuen Welt, fern der Heimat, einer neuen Kultur mit neuen Menschen und deren verschiedensten Gefühlen, die von Mitgefühl bis Hass reichen können. Zudem beschäftigt sich Yalter auch mit einer feministischen Haltung, dies bereits in den 1970er Jahren. Ein Thema, dass aber nach wie vor aktuell ist. Frauen kämpfen um Gleichberechtigung, um Gerechtigkeit und um Anerkennung. Es sind aktuelle Fragestellungen, die Yalter beschäftigen und unsere Probleme im heutigen Zusammenleben reflektieren.
Die Kombination aus Feministischer Position und Herausforderungen eines Migrantenlebens machen das Werk Nil Yalters spannend und heute aktueller denn je. Die Ausstellung hinterfragt und gibt eine Richtung zur Reflexion vor. Auch dies ist heute notwendig, denn Kunst kann mehr als Ästhetik zu vermitteln. Das beweist Yalters Schaffen. Politische Statements in der Kunst sind heute so wichtig wie in der Vergangenheit sowie der Zukunft.
[1] Nil Yalter, Gedicht im Museum Ludwig, 1990er Jahre
[2] Presseinformation des Museum Ludwigs
[3] Nil Yalter, in Dokumentarfilm in Ausstellung, https://www.deutschlandfunk.de/nil-yalter-im-museum-ludwig-exil-ist-harte-arbeit.691.de.html?dram:article_id=443118
[4] Presseinformation des Museum Ludwigs
[5] Nil Yalter, https://www.deutschlandfunk.de/nil-yalter-im-museum-ludwig-exil-ist-harte-arbeit.691.de.html?dram:article_id=443118
[6] Nil Yalter in: „Nil Yalter: Feminismus-Pionierin in Köln“, von Carola Padtberg, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/nil-yalter-feminismus-pionierin-in-koeln-a-1256752.html
[7] Nil Yalter in: „Nil Yalter: Feminismus-Pionierin in Köln“, von Carola Padtberg, ebd.
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