Kleine Dinge können zu etwas Großem, etwas Großartigem werden. Und manchmal erwartet man das nicht und es passiert einfach. Manches Mal plant man es aber auch.
Es beginnt mit einer Linie. Eine kleine einfache Linie. Sie entwickelt sich weiter, wird vielleicht fortgeführt und ergänzt mit weiteren Linien, mal rund, mal gerade, mal lang und mal kurz. Und dann entsteht ein Buchstabe, später ein ganzes Wort und am Ende steht dort ein Text. Und dann entsteht ein Bild, eine Zeichnung, eine Grafik. Mehrere Linien zusammengefügt und verbunden. Nun ergibt die einzelne Linie einen Sinn. Doch auch einzeln kann eine Linie etwas zeigen und bedeuten.
„Eine Linie ist ein Punkt, der spazieren geht.“[1] Paul Klee
Eine Line entsteht
Die Linie grenzt Objekte ab und definiert Gegenstände, Motive, Buchstaben, Symbole. Das ist häufig ihre Funktion, doch sie kann auch alleine für sich stehen. Einfach Linie sein und keinen großen Zweck erfüllen. Linien unterscheiden sich in Dichte, Breite, Länge, Richtung. Sie können gerade, gebogen oder wellig sein, dünn oder dick, symmetrisch oder asymmetrisch, unterbrochen oder gestrichelt, senkrecht, diagonal oder horizontal, organisch oder aber auch geometrisch. Diese verschiednen Formen können unterschiedlich wahrgenommen werden, so wird eine gerade Linie als statisch empfunden eine wellige Linie hingegen als dynamisch, lebendig.
Des Weiteren gibt es noch die Umrisslinie, die ein Objekt von einer Fläche abgrenzt. Linien können Flächen Struktur geben. Dicht nebeneinander gesetzte Linien, Schraffuren, können als Schattierungen in verschiedenen Kontrasttönen eingesetzt werden, Hell-und-Dunkel-Differenzierungen entstehen. Und auch Bewegungen und Dynamik können durch Linien erzeugt werden. Die Linie gehört zu den Grundlagen der Malerei und Zeichenkunst.
Ansichten zur Linie
Jean-August-Dominique Ingres sagte einst zu Edgar Degas: „Zeichnen Sie Linien, junger Mann, und dann noch mehr Linien, sowohl vor Ort als auch aus dem Gedächtnis und Sie werden ein guter Künstler werden.“[2]
Eugène Delacroix und Ingres ernsthaftester Konkurrent hingegen war kein Freund der Linie, sich darauf zu konzentrieren, mache das Bild nicht dreidimensional. Er sagte, dass es in der Natur keine Linien gäbe.[3]
Stimmt das?
Was aus einer Linie wird
Linien lassen viel entstehen, sie erschaffen, und am Ende sind es ganze Wort- oder Bildwelten. Linie stehen immer am Anfang und was daraus schlussendlich wird, kann man vielleicht noch nicht sagen, aber die Linien bleiben.
Mit ihr kann in der Kunst, der Malerei, der Zeichnung eine Form abgrenzt werden und ein Objekt, ein Gegenstand. Ein Motiv entsteht auf dem Bilduntergrund. Es kann abstrakt oder aber auch gegenständlich sein. Die Linie an sich ist etwas Abstraktes. Sie kann auch für sich selbst stehen.
Die Linie ist grundlegend für die Zeichnung. Und das Können des Zeichnens gehörte im 18. Jahrhundert zu den wichtigsten Kompetenzen eines Künstlers oder einer Künstlerin. Es stand am Beginn einer künstlerischen Karriere. Das Beherrschen der Linie und daraus das Gestalten von Formen und im letzten Schritt die Darstellung der Realität durch etwas Gezeichnetes waren Voraussetzung.
Auch als eigenständige und alleinstehende Darstellungsform spielt die Linie in Bildern eine Rolle. In Wassily Kandinskys oder Joan Mirós Gemälden sind Linien häufig neben anderen abstrakten Formen zu finden. Hier sind sie nicht Teil einer Figur oder gegenständlichen Form. Manchmal sind sie zentral und wichtigstes Element, umgeben von weiteren Formen.
Mondrian begann nicht minimalistisch, nicht nur mit Linien und Farbe. Er begann als Impressionist und fand während seiner Malerzeit zu seinem eigenen Minimalismus. Die Linie wurde mitbestimmend. Seine berühmten Werke bestehen aus schwarzen Umrisslinien, gerade und nur senkrecht und waagerecht. Gefüllt mit weiß und den Primärfarben, gelb, rot und blau. Ein einfaches Rezept aus wenigen Zutaten und das Ergebnis war Weltruhm in der Kunst.
In vielen Kunstwerken ist die Linie nicht nur die Basis, sondern ein wichtiges und herausstechendes Element. Sie kann auch einen Umriss markieren, eine Raum oder einen Gegenstand darstellen.
Wassily Kandinsky und Paul Klee zur Linie
Kandinsky und auch Klee verstanden die Linie als Punkt, der sich weiterentwickelt und aus sich heraus weiter geht. „Sie ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis.“[4]
Paul Klee führte seine Gedanken zu Punkt und Linie ausführlich aus und definierte es als Reise:
„Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem holen (unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie). Rückblick, wie weit wir schon sind (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke gewesen (Bogenreihe). Drüber treffen wir einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden. Zuerst vor Freude einig (Konvergenz), stellen sich allmählich Verschiedenheiten ein (selbständige Führung zweier Linien).
Gewisse Erregung beiderseits (Ausdruck, Dynamik und Psyche der Linie).
Wir durchqueren einen ungepflügten Acker (Fläche von Linien durchzogen), dann einen dichten Wald. Er verirrt sich, sucht und beschreibt einmal gar die klassische Bewegung des laufenden Hundes. Ganz kühl bin ich auch nicht mehr; über neuer Flußgegend liegt Nebel (räumliches Element). Bald wird es indessen wieder klarer. Korbflechter kehren heim mit ihren Wagen (das Rad). Bei ihnen ein Kind mit den lustigsten Locken (die Schraubenbewegung). Später wird es schwül und nächtlich (räumliches Element). Ein Blitz am Horizont (die Zickzacklinie). Über uns zwar noch Sterne (die Punktsaat). Bald ist unser erstes Quartier erreicht. Vor dem Einschlafen wird manches als Erinnerung wieder auftauchen, denn so eine kleine Reise ist sehr eindrucksvoll.“[5]
Abschließend
Die Linie ist der Beginn von vielem, Worten, Bildern, Noten, Zeichen. Die Linie ist der Weg, dessen Ausgangspunkt ein kleiner Punkt ist. Der Weg kann unterschiedlich verlaufen, gerade, kurz oder lang, rund abbiegen. Je nachdem wie das Ziel nachher aussehen soll oder wird.
Es kann bei einer Linie bleiben, es kann aber auch etwas aus dieser Linie entstehen, etwas mit Sinn, Poesie oder Bedeutung.
Manche Dinge im Leben können so einfach sein. Leicht verständlich und ohne Fragezeichen. Diese einfachen Dinge können aber zu großen, komplexen Dingen heranwachsen. Doch am Anfang steht die Linie.
[1] Paul Klee, https://www.srf.ch/kultur/kunst/paul-klee-als-spielerisch-radikaler-gigant.
[2] Smee, Sebastian: „Kunst und Rivalität – Vier außergewöhnliche Freundschaften“, Berlin, 2017, S. 125.
[3] Smee, Sebastian: „Kunst und Rivalität – Vier außergewöhnliche Freundschaften“, Berlin, 2017, S. 127.
[4] Wassily Kandinsky, https://www.bauhaus-bookshelf.org/bauhausbuecher-9-wassily-kandinsky-punkt-und-linie-zur-flaeche-pdf-1926.html.
[5] Paul Klee, zitiert nach Werner Hofmann in: „Die Grundlagen der modernen Kunst“, S. 419 f.